Bahnwärter Thiel von Gerhart Hauptmann

Portrait Gerhart Hauptmann
Portrait Gerhart Hauptmann Quelle www.zeno.org , gemeinfrei

Charakterisierung des Bahnwärter Thiel

1887 verfasste der junge Gerhart Hauptmann eine, wie er es selbst bezeichnete, novellistische Studie namens „Bahnwärter Thiel". Der Haupthandlungsträger ist, wie der Buchtitel erahnen lässt, ein Bahnwärter aus Schön-Schornstein.Schon zu Beginn der Novelle trifft Thiel ein schwerer Schicksalsschlag, seine geliebte Frau Minna stirbt, während der Geburt ihres Sohnes Tobias. Weil Thiel sich um seinem Sohn sorgt, entschließt er sich ein zweites Mal zu heiraten. Lene, seine zweite Frau, ist jedoch das völlige Gegenteil Minnas, weshalb Thiel in ihr keine Liebe finden kann. Von nun an wird sein Leben von seiner herrschsüchtigen Frau bestimmt. Der kleine Tobias kann in  Lene keine Mutterfigur erkennen, das sie ihn keine Gefühle entgegenbringt und ihn sogar misshandelt. Mit der Geburt eines zweiten Kindes, verschlimmert sich die Situation von Tobias. Mit dem Tod von Tobias brechen für Thiel die Welten zusammen.


Gerhart Hauptmann beschreibt seinen Protagonisten als einen Mann mittleren Alters und von „herkulischer Gestalt" (S.5 Z.17-18), was besagt, dass Thiel äußert kräftig („breite!r] behaarte[r] Nacken", S.5 Z.31) gebaut ist. Sein Gesicht ist, wie das seiner zweiten Frau, grob geschnitten und sonnengebräunt. Die roten Haare trägt er „wohlgeölt und militärisch gescheitelt" (S.5 Z.29-30). Des Weiteren deutet seine saubere Sonntagsuniform mit den blank geputzten Knöpfen, welche er jeden Sonntag zur Kirche trägt, auf einen sehr ordnungsliebenden, gesunden, gläubigen und frommen Menschen aus der Arbeiterschaft hin.Sein robustes äußeres Erscheinungsbild steht jedoch im völligen Kontrast zu seinem Inneren. Denn in Wirklichkeit ist Thiel ein sensibler, liebenswerter und emotionaler Mensch. „Die Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas in sich, wodurch er alles Böse [...] reichlich mit Gutem aufgewogen erhielt." (S.7 Z.3ff). Verdeutlicht werden diese Charakterzüge aufgrund der Tatsache, dass er von den Kindern der kleinen Kolonie Schön-Schornstein liebevoll „Vater Thiel" (S.ll Z.17) genannt wurde. Seine innere Zuneigung bringt er vor allem Tobias entgegen, denn er ist für ihn die einzige wirkliche Erinnerung an seine geliebte Frau Minna,in Tobias lebt die glückliche Vergangenheit weiter. „Das Beste von dem Inhalt seiner Erinnerungen war für Tobias" (S.ll Z.20ff). Zudem hat er für Tobias ein Sparbuch angelegt, was unter anderem zeigt, dass er seine ganze Hoffnung in seinen Jungen legt. Und als Thiel dann erfährt, dass Tobias Bahnmeister werden möchte, ist er überglücklich. In seinem inneren verbirgt sich jedoch auch eine ganz andere Seite. Während er „mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe verbunden gewesen war, geriet er durch Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau" (S.7 Z.27ff). Die enge Liebe zu Minna drückt sich in kultähnlichen Handlungsweisen, mit denen er ihr gedenkt, aus („Oft [...] in Augenblicken einsamer Andacht, wenn er recht innig mit der Verstorbenen verbunden gewesen war", S.8 Z.3ff).
So hat er für sie in seinem Bahnwärterhaus einen Altar (S.8 Z.13ff) errichtet und fuhrt regelmäßig Zwiegespräche mit der Toten. Manchmal geriet er in solche Ekstase, dass er glaubte die Tote leibhaftig zu erblicken. Seine verworrenen Träume zeigen seine psychische Labilität und seine tiefen inneren Ängste und führen ihn schließlich sogar in den Wahnsinn.
Die Tatsache jedoch, dass er von seiner zweiten Frau sexuell abhängig ist, lassen ihn Ekel vor seinem Zustand und Ohnmacht, die Thiel daran hindert, sich Lene entgegen zusetzten, empfinden (S.8 Z.3ff). Lene hat er keineswegs aus Liebe geheiratet, sondern nur aufgrund seines Verantwortungsbewusstseins gegenüber seinen Sohn; er hatte Angst das Tobias ihn „drauf" geht (vgl. S.6 Z.1). Lene ist für ihn ein musterhafte Wirtschafterin, für die er jedoch keinerlei Liebe und Zuneigung entwickeln konnte. Auch seinem zweiten Kind will und kann Thiel keine Liebe entgegenbringen.
Obwohl Thiel erkennen muss, dass seine Frau Tobias immer wieder schlägt, unternimmt er Nichts: „Ein Augenblick schien es, als müsse er gewaltsam etwas Furchtbares zurückhalten, was in ihm aufstieg; dann legte sich über die gespannte Miene plötzlich das alte Phlegma" (S.14 Z.25ff). Und das ist auch das größte Problem Thiels, er ist ein zu „kindgutes, nachgiebiges Wesen" (S.7 Z.9-10) der sich seiner Frau nicht widersetzen kann.
Thiel führt eine Doppelexistenz, sein Leben läuft anfangs ruhig, ausgesteuert, das Eine das Andere abfedernd, zwischen zwei Frauen, zwei Lebensmustern und zwei Welten. Die eine Welt ist sein Bahnwärterhaus, sein eintöniger, ruhiger und einsamer Arbeitsplatz. Hier kann er sich in völliger Hingabe seiner verstorbenen Frau Minna erinnern. Hier lebt er völlig introvertiert ohne jeglichen menschlichen Kontakt. Deshalb „erklärte er sein Wärterhäuschen [...] [auch] für geheiligtes Land" (S.7 Z.34-36). Die andere Welt bildet sein Wohnhaus in einer kleinen Kolonie an der Spree in der Nähe von Neu-Zittau. Sein Leben dort ist armselig, er und seine Familie leben am unteren Existenzminimum. Zuhause in Schön-Schornstein bestimmt seine Frau sein Leben, hier regiert sie und er ist untergeben. Am Ende bricht die ganze aufgestaute Wut über erlittene Erniedrigungen und die Erschütterung über den Tod des geliebten Jungen aus ihm heraus. Er verfällt dem endgültigen Wahnsinn und tötet in einer gewalttätigen Kurzschlusshandlung Lene und sein zweitgeborenes Kind, was den totalen psychischen und physischen Zusammenbruch Thiels zum Vorschein bringt.
Gerhart Hauptmann schildert Thiels Irrewerden als Folge des Zerbrechens einer zuvor intakten, wenngleich nicht unkomplizierten und vermischten Lebenswelt. Er zeigt deutlich auf, was passieren kann, wenn man einmal zu oft einen geliebten Menschen verliert.

 

Aufgabenstellung

1. Stelle die Aussagen über die Örtlichkeiten aus dem Text zusammen!

2. Welche Informationen werden über das Leben Thiels im Bahnwärterhaus und über sein Leben zu hause geliefert?

3. Verdeutliche die Beziehung zwischen Thiel und Tobias!

Zu 1.

Der Ort:

• „Schön-Schornstein, eine[r] Kolonie an der Spree" (S.5 Z.13ff.)
• in der Nähe von Neu-Zittau
• „Von den Bewohnern der kleinen Kolonie, etwa zwanzig Fischern und Waldarbeitern mit ihren Familien [...]" (S.13 Z.3f.)

Das Wohnhaus:

• „[...] Bett seines Ältesten, welches er in den Nächten , wo er nicht im Dienst war, mit ihm teilte" (S.10 Z.1f.)
. „im Herdfeuer" (S.11 Z.2)
• „[...] die niedrige und rissige Stubendecke angestarrt hatte." (S.11 Z.5f)
. „[...] Kalk aus einem Loche in der Wand [...]" (S.11 Z.9f)
• „[...} auf der kleinen Nußbaumkommode [...]" (S.11 Z.40)
• „Die Wanduhr mit dem langen Pendel und dem gelbsüchtigen Zifferblatt [...] " (S.12 Z. 6f.)
• „[...] ziegelgepflasterten Hausflur." (S.13 Z.40)
• „[...] erklomm er die knarrende Holzstiege." (S.13 Z.40/41)
• „ die schmale Stiege hinauf in seine kleine Wohnung" (S.31 Z.22/23)

» Das Wohnhaus bildet das reale Leben ab, in dem er voll und ganz von seiner Frau abhängig ist

Das Bahnwärterhaus & Umgebung:

• „[...] war ihm sein einsamer Posten inmitten des märkischen Kiefernforstes sein liebster Aufenthalt." (S. 7 Z.21f.)
• „So erklärte er sein Wärterhäuschen und die Bahnstrecke, [...Linsgeheim für geheiligtes Land [...]" (S.7 Z.34ff.)
• „in tiefer Mitternacht [...] wurde das Wärterhäuschen zur Kapelle" (S.8 Z.10ff.)
• „Einige Zerstreuung vermittelte dem Wärter ein Brunnen dicht hinter seinem Häuschen." (S.9 Z.1f.)
• „[...] das enge, viereckige Steingebauer der Wärterbude [...] herzurichten." (S.15 Z.20f.)
• „Er legte sein Abendbrot auf den schmalen, braungestrichenen Tisch an einem der beiden schlitzartigen Seitenfenster, von denen man die Strecke bequem übersehen konnte." (S.15 Z.23ff.)
• „[...] rostigen Offenen [...]" (S.15 Z.26)

Der Wald:

• „[...] inmitten des tiefgrauen Kiefernforstes, dessen Nadelmassen einem schwarzgrünen, wellenwerfenden Meere glichen." (S.12 Z.11ff.)
• „[...] in dieser Einöde." (S.15 Z.19)

» Der Wald und sein Bahnwärterhaus bilden den Rückzugsort Thiel. Hier erinnert er sich seine geliebten Frau, hier ist er mit sich allein. Hier findet er seine Ruhe vor der herschsüchtigen Frau Lene.

Der Acker:

• „[...] ein Stück Land längs des Bahndammes in unmittelbarer Nähe des Wärterhauses [...]" (S.10 Z.16f.)
• „[...]dass bei alledem noch zwei Zwergobstbäume drauf stünden [...]" (S.10 Z.23f.)
• „Es war ein schmaler Streifen Sandes, von Unkraut dicht überwuchert." (S.17 Z.14f.)
. „[...] dunkel gefärbten Sand [...]" (S.22 Z.25) Die Gleise:
• „Die schwarzen, parallel laufenden Gleise [...] glichen in ihrer Gesamtheit einer ungeheuren Netzmasche, deren Strähnen sich im äußersten Süden und Norden in einem Punkt des Horizontes zusammenzogen." (S.16Z.7ff.)
• „Auch die Gleise begannen zu glühen, feurigen Schlangen gleich [...]" (S.16 Z.23/24)

» Die Bahnstrecke und die Gleise gelten hier als Sinnbild den Unheimlichen, Unbegreiflichen und übermenschlich Chaotischen, das schicksalhaft in das menschliche Leben eingreift.

Zu 2.

Die Handlung dieser Erzählung spielt sich hauptsächlich an zwei Orten ab. Einerseits im Haus des Bahnwärters Thiel, das in dem kleinen Ort Schön-Schornstein an der Spree liegt, und andererseits am Arbeitsplatz des Wärters, ein kleines Wärterhäuschen an der Bahnstrecke und mitten im Wald gelegen. Das Leben an seinem Arbeitsplatz nimmt einen besonderen Stellenwert für ihn ein. „[Es] war ihm sein einsamer Posten inmitten des märkischen Kiefernforstes sein liebster Aufenthalt." (S. 7 Z.21f.) Denn hier im Wald ist er völlig allein und muss sich nicht seiner Frau unterwerfen, hier kann er in Ruhe über sein Leben und seine Handlungen nachdenken.
Das Bahnwärterhaus dient Thiel als Rückzugsort, wo er sich in Ruhe seiner geliebten Frau erinnern kann. Oft arten seine Erinnerungen auch in Wahnvorstellungen aus, denn manchmal glaubt er Minna leibhaftig zu sehen. Deshalb „[...] erklärte er sein Wärterhäuschen und die Bahnstrecke, [...], insgeheim für geheiligtes Land [...]."(S.7 Z.34ff.)
Der andere Teil seines Lebens, die Freizeit, wird im Buch durch seine Wohnung in Schön-Schornstein dargestellt. Hier „herrscht" seine Frau Lene, hier führt sie die Regie. Lene ausgeliefert kann er der gnadenlosen Wirklichkeit nicht entrinnen. Die Wohnung symbolisiert die reale Welt mit den vielen Problemen. Hier lebt er mit seiner Familie und hier spielt sich das Leben seiner Familie ab. Ich glaube jedoch das der Bahnwärter das Leben zu hause nicht wahrnimmt. Diese zwei Welten symbolisieren das „Gute" und das „Böse", also zwei verschiedene Realitäten, die für ihn gleich nah und doch gleich fern sind. Das Scheitern bzw. das Irrewerden Thiels bildet die Folge des Zerbrechens der strickten Trennung Thiels in zwei Welten. Mit dem Bestellen des Kartoffelackers neben dem Wärterhäuschens, verschmelzen seine zwei Welten, beginnt das Unglück.

Zu 3.

Tobias wird von seinem Vater Thiel wirklich sehr geliebt, denn nur er ist für ihn die einzige wirkliche Erinnerung an seine geliebte Frau Minna, in ihm lebt die glückliche Vergangenheit weiter. Tobias leidet unter der fehlenden Mutterfigur in seinem Leben, denn Lene, die keine Gefühle für ihn zeigt und ihn sogar misshandelt kann er als solche nicht annehmen. Seine einzigste seelische Stütze ist sein Vater, den er voll und ganz liebt („Dem Vater bewies er ganz besondere Zuneigung" S.9 Z.6; „Er griff hastig nach der Hand des Vaters, indes sich seine Mundwinkel zu zu einem kläglichen Lächeln verzogen." S.10 Z.7ff.). Thiel sucht Zuflucht in der Liebe zu seinem Sohn, bringt ihm Liebe und Geborgenheit entgegen („Das Beste von dem Inhalt seiner Erinnerungen war für Tobias." S.11 Z.20f.). Jedoch vermag Thiel nicht ihn vor der Gewalt seiner Stiefmutter zu schützen. Als Tobias stirbt, ist sein einzigster Bezug zur Realität verlorengegangen und in ihm wird einer Kurzschlussreaktion aus seelischer Verzweiflung ausgelöst.